Das erlebnistherapeutische Hofprojekt im Haus Aichele bringt Kinder mit Tieren und der Arbeit in der Natur zusammen. Dabei gehen Landwirtschaft, Pädagogik und Therapie Hand in Hand. Seit 2021 hat sich daraus eine Erfolgsgeschichte entwickelt, die mehrere Ziele erreicht.
Tiere und Kinder: passt
Arbeit in der Landwirtschaft und Kinder: naja…
Weckerklingeln am Samstagmorgen: ach nööööööö!!
Einmal im Monat klingelt im Haus Aichele auch an einem frühen Samstagmorgen der Wecker. Da ist es egal, dass Wochenende ist. Und es ist egal, ob Sommer oder Winter, ob milder Frühlingstag oder kaltes, stürmisches Herbstwetter. Die Kinder und Jugendlichen schlüpfen in ihre Gummistiefel und holen die Hofklamotten aus dem Schrank – Jacken, Hosen und Pullis, die so richtig dreckig werden dürfen. Die acht sechs- bis fünfzehnjährigen Mädchen und Jungs sind unterschiedlich motiviert. So manch einer wäre gerne noch im warmen Bett, würde lieber am Handy zocken oder einfach auf der Wohngruppe chillen. Sie wissen: Es wird anstrengend im Hof Braun im Lenninger Tal, vielleicht auch nass und kalt oder dreckig. Vor allem aber wird es cool.
Kunsttherapeutin und Naturpädagogin Heidi Hoffmann hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit dem früheren Kollegen Wolfgang Braun und seiner Frau Eva ein Projekt entwickelt, das erfolgreich Heranwachsende mit Tieren und der Arbeit auf einem Hof zusammenbringt. Die Landwirtin und der Diplom-Sozialpädagoge, Handwerker und Landwirt betreiben in Brucken einen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb mit zehn Hektar Grünland und einer Herde von 20 Mutterschafen, 20 Mutterziegen und zwei Eseln. Mit ihren Tieren beweiden sie im Biosphärengebiet Schwäbische Alb Streuobst- und denkmalgeschützte Wiesenflächen in Lenningen, Owen, Beuren und Neuffen.
Warum das Hofprojekt nach vier Jahren im Haus Aichele nicht mehr wegzudenken ist, zeigen gleich die ersten Minuten vor Ort. Während die Arbeit des Tages in einem Kreis besprochen wird und alle die Möglichkeit haben, zu berichten, wie es ihnen geht und worauf sie sich freuen, begrüßt Hofhund Jonny die Gäste. Mit dem erstaunlichen Einfühlungsvermögen eines guten Hütehundes sucht er sich dabei das Kind heraus, das ihn gerade am meisten braucht – und setzt sich zu dessen Füßen. Mitunter wird hier schon eine Weiche gestellt, die den Tag für dieses Kind ganz anders verlaufen lässt, als es ohne diese Begegnung der Fall gewesen wäre.
Gearbeitet wird gemeinsam
Die Stallarbeit ist die Konstante jedes Hofprojekttages und steht am Anfang. Die Gruppe teilt sich auf: Wer will heute den Ziegenstall ausmisten, wer füttert die Schafe, wer kratzt den beiden Eseln die Hufe sauber? Was in der Anfangszeit durch die Erwachsenen eng begleitet, erklärt und oft auch übernommen werden musste, läuft nun, im vierten Jahr des Hofprojekts, nahezu selbständig. Die Kids wissen, was zu tun ist, wissen, wo sich Geräte und Material befinden und haben auch gelernt, ihren Teil der Arbeit eigenständig zu organisieren. Eva, Wolfgang und Heidi stehen dennoch mit Rat und Tat zur Seite – gearbeitet wird hier gemeinsam.
Nach der Stallarbeit werden die Kinder in jahreszeitlich anfallende Arbeiten auf Hof und Wiesen eingebunden. Das reicht vom Obstbaumschnitt über das Sammeln und Verladen von Reisig auf den Anhänger des alten Bulldogs, Krählesbinden, Bäume pflanzen, Nistkastenbau, Weidezäune stecken, Weidekontrolle, das Begleiten der Tiere auf die Weideflächen, Heuernte, Beeren-, Apfel- und Walnussernte, Kochen von Marmelade und Pressen von Saft mit der alten, manuellen Obstpresse bis hin zum Schlagen und Aufstellen des Weihnachtsbaumes im Stall. Natürlich werden auch besondere Wünsche berücksichtigt. Hofprojekt bedeutet nicht nur Arbeit im Stall und auf der Wiese, sondern kann auch bedeuten, aus der Wolle der Schafe Kugeln zu filzen oder mit Säge, Schnitzmesser und Brandmalkolben einen eigenen Hirtenstab zu bauen.
Kochen in der Gruppe
Das Mittagessen bereiten die Kinder gemeinsam mit den Erwachsenen zu, wobei häufig Produkte vom Hof zum Einsatz kommen. Es wird Gemüse geschnippelt und Suppe gekocht oder ein Feuer angezündet, über dessen Glut das Fleisch der hofeigenen Tiere gegrillt wird. Alle essen gemeinsam im Freien vor dem Stall oder im Winter in der wind- und wettergeschützten Stallgasse.
Und noch etwas ist wichtig beim Hofprojekt: Zeit, um mitten im Stall zu stehen, umringt von Schafen oder im Frühjahr von winzigen, neugierigen Lämmern, die Hände ins Fell der Tiere zu graben, zu spüren, wie ein Schaf sich ganz offensichtlich freut und es genießt, gestreichelt zu werden. Zu lachen, wenn ein besonders mutiges Lämmchen an Schnürsenkeln knabbert. Über die Wiese am Stall zu rennen, so schnell es geht. Im Sommer mutig ins klare, kalte Wasser der Lauter zu springen, im Fluss zu baden und später im Schatten der Uferbäume zu träumen oder im Winter bei Schnee mit dem Schlitten über die steile Wiese hinterm Stall zu jagen.
Beziehung entwickeln, Dranbleiben, Erleben
Zwei Ziele verfolgen Eva, Wolfgang und Heidi mit dem Hofprojekt. Aus pädagogischer Sicht sollen die Kinder eine Beziehung zu den Tieren und der Natur entwickeln. Sie sollen landwirtschaftliche Arbeit kennen- und so deren Produkte schätzen lernen. Sie sollen Wissen erwerben über geschützte Wiesenpflanzen, über die Tiere und über ökologische Zusammenhänge. Sie sollen lernen, an einer Sache dranzubleiben, durchzuhalten, auch wenn es nicht immer leicht und komfortabel ist. Und sie sollen erleben, wie stark man als Gruppe ist, wie viel man gemeinsam schafft, und wie befriedigend das Gefühl ist, nach getaner Arbeit gemütlich beim selbst zubereiteten Essen zu sitzen.
Vertrauen entwickeln an einem sicheren Ort
Das zweite Ziel ist ein therapeutisches. Lebt man in der Wohngruppe eines Kinderheims, dann heißt das, man hat schon so einiges hinter sich. Zu Hause mit den Eltern war es aus verschiedenen Gründen schwierig. Vielleicht auch in der Schule, wo manche der Kinder schon früh Ausgrenzung und Mobbing kennenlernen mussten. Wenn der Start ins Leben so holprig verläuft, ist es schwer, Vertrauen zu entwickeln. Sowohl Vertrauen in andere Menschen als auch in sich selbst.
Hier bietet das Hofprojekt einen Rahmen, den die Psychologen als „Sicheren Ort“ bezeichnen. Sicher ist das große Gelände, das einerseits zu Entdeckungen einlädt, andererseits aber begrenzt und durch drei Erwachsene beschützt ist. Sicher und für die Kinder voraussehbar wurde das ganze Hofprojekt konzipiert: Am immer gleichen Ort, beim Stall in Brucken, am gleichen Wochentag zur gleichen Zeit, und betreut von denselben drei Erwachsenen, die den Kindern bekannt und vertraut sind. Vorhersehbar sind auch die im Jahreslauf wiederkehrenden landwirtschaftlichen Arbeiten. So wird ein haltender, sicherer Rahmen geschaffen, in dem Entwicklung möglich ist. Sich selbst ausprobieren können, staunen, was man alles schafft, Tieren begegnen können und lernen, mit diesen einen guten Kontakt aufzubauen.
Kontakt zu Tieren fällt teilweise leichter
Eine Beobachtung, die die drei Erwachsenen dabei immer wieder machen, ist, dass gerade traumatisierten oder bindungsgestörten Kindern der Kontakt zu Tieren teilweise leichter fällt als der zu Menschen. Tiere haben oft ein hohes Einfühlungsvermögen, und sie reagieren direkt auf die Kinder, ohne sich – wie Mitmenschen dies oft tun – von Äußerlichkeiten, Sprache oder Vorannahmen beeinflussen zu lassen. Dieser Aspekt wird im Hofprojekt, selbstverständlich unter Beachtung und Wahrung des Tierwohls, behutsam unterstützt und genutzt.
Jeder einzelne Termin wird von den drei Erwachsenen intensiv vorbereitet und nachbesprochen, wobei die Entwicklungsaufgaben und aktuellen Befindlichkeiten eines jeden Kindes im Mittelpunkt stehen. Hier fließen natur- und sozialpädagogische, landwirtschaftliche und therapeutische Expertisen zusammen und bereichern sich zum Nutzen der Kinder gegenseitig.
Haus Aichele freut sich über Ihre Unterstützung
Das Hofprojekt hat sich seit 2021 stetig weiterentwickelt, greift auf Erfahrungen der Vorjahre zurück und passt diese an die sich wandelnde Zusammensetzung der Wohngruppe an. Je nach Entwicklungsstand und Bedürfnis der Kinder werden bei den einzelnen Terminen die Aspekte von gemeinsamer Arbeit, Kreativität, Spiel und Begegnung mit den Tieren unterschiedlich gewichtet. So wächst und verändert sich das Hofprojekt mit der jeweiligen Gruppe und bleibt gleichzeitig durch die stabilen Rahmenbedingungen ein sicherer, verlässlicher Ort für die Kinder. Finanziert wird die Arbeit sowohl aus Geldern der Einrichtung als auch aus Spenden. Das Haus Aichele freut sich über Ihre Unterstützung, denn das Hofprojekt mit seinem wertvollen pädagogisch-therapeutischen Angebot soll den Heranwachsenden im Haus Aichele noch viele Jahre erhalten bleiben.
Bevor die Kids am Nachmittag wieder in den Transporter steigen und ins Haus Aichele zurückfahren, treffen sich alle noch einmal vorm Stall zur Abschlussrunde. Jeder darf nun berichten, was für ihn heute das Besondere war, was ihm gefallen hat, was er oder sie gelernt hat und auch, was als schwierig empfunden wurde. In dieser Runde werden auch Wünsche für die kommenden Termine gesammelt. Die Vorfreude ist schon jetzt wieder groß. Vielleicht wird ja was aus „mal wieder auf dem Anhänger des Bulldog fahren“ oder „Apfelsaft selber machen“. Andere sagen: „Ich lass mich überraschen.“ Doch für alle gilt: Wenn der Wecker das nächste Mal am Samstagmorgen klingelt, wartet wieder ein besonderer Tag auf dem Hof auf sie.